Warme sommerliche Temperaturen bei der Ankunft. Heiße Autofahrten im 100 Km Tempo durch die Innenstadt. Neue und moderne Gebäude. Freundliche Häuserfassaden. Kirchen mit Zwiebeltürmen in allen Ausführungen. Entzückend ausgestattete Theater, Eine Prokofjew-Nacht bis drei Uhr morgens.
Kaviar eimerweise auf den Tischen. Ein Grillabend auf der Dachterasse mit kilometerweitem Ausblick über grüne Baumwipfel hinweg. Das Partnerschaftstreffen in St Petersburg, aufregend, spannend und erlebnisreich ....
Was macht man, wenn sich die eigene Jumelages-Gruppe auflöst? Aktuell stellt sich unseren St. Petersburger Partnern dieses Jahr diese Frage. Den Hinterbliebenen empfehlen, sich einer anderen Jumelages-Gruppe anzuschließen, geht nicht, denn St. Petersburg, die europäischste aller russischen Städte, ist auch die einzige, die bislang eine Jumelages-Gruppe vorweisen konnte. So beschlossen unsere dortigen Freunde notgedrungen, sich diesmal auf die Pflege persönlicher Kontakte zu beschränken.
Konkret kann eine derartige Vorgehensweise bedeuten, dass man grundsätzlich niemand anderes aufnimmt, wenn der persönliche Partner verhindert ist. Die Konsequenzen sind gravierend.
Aufgrund persönlicher Verhinderungen gab es auf deutscher Seite lediglich 8 Anmeldungen zur Teilnahme, von denen letzten Endes gerade einmal 3 einen aktuell verfügbaren persönlichen Partner auf russischer Seite vorweisen konnten. Ihr habt richtig gelesen: Ganze drei deutsche Teilnehmer nahmen an unserer diesjährigen Begegnungsfahrt nach St. Petersburg teil.
Gewiss habe ich schon kleinere Jumelages-Delegationen gesehen, doch ist es für eine Sektion wie der unsrigen kontraproduktiv, wenn auf 8 Anmeldungen 5 Absagen kommen. Es muss also unbedingt ein neues Konzept her. Wer eines weiß, mag es bitte kundtun. Mein Vorschlag sind Begegnungen an drittem Ort. Das ist zwar nicht originell, doch wie ich mich schon verschiedentlich in diesem Jahr überzeugen konnte, kommt diese Idee noch immer gut an. Im nächsten Jahr könnte dieser Ort Berlin heißen.
Doch halten wir uns nicht zu lange bei der Vorrede auf! Wie schon so oft zuvor, sorgten am Flughafen Pulkovo nicht allein unsere Petersburger Freunde, sondern auch die Temperaturen für einen ausgesprochen warmen Empfang. Zum Glück haben auch russische Autos mittlerweile Klimaanlage, zumal man in St. Petersburg fast nur ausländische Marken sieht, was nicht unbedingt landestypisch sein soll. Immerhin blieb zumindest der Fahrstil immer noch heiß, was vielleicht nicht anders geht, wenn man in der 5-Millionenstadt durchkommen will. Wer aber wie ich Tempo 100 innerstädtisch so gar nicht kennt lernt wieder beten.
Meines Erachtens hat sich das Aussehen der Häuserfassaden in den letzten zehn Jahren kolossal verbessert: viele helle, freundliche Farben und überwiegend alles wieder gut im Schuss. Noch immer dominieren repräsentative Gebäude aus der Hauptstadtepoche, aber daneben imponieren beachtliche Neubauten für die aktuelle Geschäftswelt.
Viele hässliche Ecken aus der sozialistischen Zeit sind verschwunden, und in den Läden gibt es nicht nur alles, was das Herz begehrt, sondern das sogar rund um die Uhr, ob Werktag oder nicht. Da lacht das Rentnerherz. Selbst das Postamt, in dem sich unsere Gastgeber im verschreibungsfreien Ausfüllen dusseliger Anmeldeformblätter einen geschlagenen Vormittag lang übten, machte laut Aushang davon keine Ausnahme.
Kein Wunder, dass man neuerdings als Deutscher vor der Visumerteilung die Bereitschaft glaubhaft machen muss, dieses gastfreundliche Land auch wieder zu verlassen. Die Gasgeber ließen nicht zu, dass wir auch nur einmal die Geldbörse zückten, aber dem Vernehmen nach steht der Euro derzeit bei 40 Rubel; bei meinem ersten Russlandaufenthalt hatte ich 1983 noch drei Mark pro Rubel berappen müssen.
Der Kaviar stand diesmal gleich eimerweise auf dem Tisch. Kurz, man kam sich vor, wie bei besseren Leuten. Aber längst nicht allen Russen ist der Tisch so reich beschert. So manch einer arbeitet deshalb auch nach Erreichen des Rentenalters noch unverdrossen weiter. Ganz erhebliche Unterschiede in der Finanzkraft mögen Ursache für das Ende der russischen Jumelages-Gruppe gewesen sein.
Auch kulturell war wieder so einiges los: Kirchen mit Zwiebeltürmen in allen Ausführungen bis zum Abwinken; von innen gesehen haben wir freilich nur eine, und in der durfte man leider nicht fotografieren. Anlässlich eines spanischen Liederabends unter freiem Himmel lernten aber nicht nur wir Gäste erstmals den geräumigen Innenhof des Winterpalasts kennen.
Von innen erlebt habe ich hingegen so manches Petersburger Theater. Heuer kam ein weiteres ganz entzückend ausgestattetes dazu. Ahnungslos zog ich in die Vorstellung, um da zu erfahren, dass „Mister X“ eine Operette von Emmerich Kálmán ist, deren Handlung sich in St. Petersburg und Wien abspielt. Im Anschluss an die Vorstellung ein gefährlich anmutender russischer Brauch: Bei allen Doppelflügeltüren bleibt ein Flügel geschlossen und stemmt sich so dem ins Freie drängenden Besucherstrom entgegen.
Doch der eigentliche Härtetest kam erst noch: Eine Prokofjew-Nacht bis drei Uhr morgens. Keine Frage, dass ich mich schon vor dem bitteren Ende ein bisschen gehen ließ und schlapp machte. Prokofjew? Noch nie gehört? Ich sage nur: „Peter und der Wolf“! Muss ich noch mehr sagen? Vielleicht soviel: Ich erlebte ein Doppelwunder. Obgleich die Zuschauer auf einer bewaldeten Halbinsel mit viel Wasser ringsum standen, lauschten, futterten oder quatschten, zeigte sich nicht eine Schnake, die sich irgendwie beteiligt hätte. Normalerweise verfolgen diese die Einheimischen nämlich bis in die Wohnung, wo sie dann mit dem Staubsauger von der Decke geholt werden, die Schnaken meine ich. Und dort in der freien Natur wagte sich auf einmal auch nicht ein Stecher aus der Deckung.
Wunder Nummer zwei: Die zahlreich zwischen den Bäumen aufgestellten Lautsprecher, die die Musik des Orchesters von jenseits der Wasserfläche wiedergaben und relativ zum jeweiligen Zuhörer unvermeidlicherweise in ganz unterschiedlicher Entfernung standen, lieferten dennoch einen einheitlichen, ausgeglichenen Klang ohne Hall oder Echo. Es ist schon erstaunlich, was technisch nicht so alles möglich ist. Trotz alledem hatte ich mich im Petershofer Park am helllichten Tag dann doch wohler gefühlt als im dunklen Wald ohne Taschenlampe.
An der Soirée amicale nahmen 13 Personen teil. Mischa und Sergei, mit denen ich mich auch gerne unterhalten hätte, waren leider verhindert. Um so besser passten alle zum Einnehmen der Vor- und Nachspeise in das für 4 Bewohner reichlich bemessene Esszimmer innerhalb der auch sonst geräumigen Wohnung, die sich Igor in der obersten Etage eines der von ihm gebauten Häuser zusammen mit Galina geschmackvoll eingerichtet hat. Ljudmila war neben mir auf einer Sofalehne plaziert worden und wollte partout nicht mit mir tauschen. Zum Grillen ging es auf eine der beiden Dachterassen mit kilometerweitem Ausblick über grüne Baumwipfel hinweg. Es war die familiärste Soirée amicale, die ich bislang erleben durfte.
Nach der Begegnung ist vor der Begegnung. Und so läuft bereits jetzt die Planung für den Gegenbesuch unserer russischen Freunde an, der, wie schon gesagt, in Berlin stattfinden könnte, um allen Interessenten die Möglichkeit zur Teilnahme zu bieten, ohne auf persönliche Partner angewiesen zu sein.
Georg Urbanski